Konzertkritik - Galakonzert mit René Giessen und Julien Chappot in Schwabmünchen
Mit Cello und Mundharmonika über Deutschland reden
Eine außergewöhnliche Uraufführung fand am Wochenende in
Schwabmünchen statt: Im Rahmen eines Galakonzertes in der
Stadtpfarrkirche St. Michael wurden am 4. November 2023 René
Giessens „Haydn-Variationen für Cello, chromatische
Mundharmonika und sinfonisches Blasorchester“ aus der Taufe
gehoben. Ein auskomponiertes Klanggedicht, das in mehreren
erzählerischen Abschnitten Ereignisse aus der deutschen Geschichte
reflektiert, indem es aus der Melodie der deutschen Nationalhymne
spielerisch Emotionen und musikalische Bilder entwickelt. Das rund
zwanzigminütige Werk ging unter die Haut durch intime Dialoge von
Cello und Mundharmonika, große orchestrale Momente und eine
positive Grundstimmung, die dazu einlädt, dankbar für das Hier und
Heute zu sein.
Ungewöhnliches Gipfeltreffen
Gespielt wurde das Stück vom Musikverein Langerringen unter
seinem Dirigenten und langjährigen Leiter Stephan Knöpfle,
zusammen mit zwei hochkarätigen Solisten: Komponist René Giessen
übernahm den virtuosen Mundharmonika-Part und fand ein
ebenbürtiges Gegenüber im sensiblen und klanggewaltigen Julien
Chappot, dem Solocellisten des Augsburger Staatstheaters. Aus der
ungewöhnlichen Konstellation von Cello und Mundharmonika zog
das Stück auch seine einzigartige Expressivität: In vier exponierten
Passagen kontrastierte das warme, voluminöse Streichinstrument aus
der Welt der E-Klassik mit dem feinen, metallischen Sound der
Mundharmonika, die traditionell mit Volksmusik und Blues assoziiert
wird. René Giessen, seit Jahrzehnten sowohl in E- wie in U-Musik zu
Hause, spielte die Mundharmonika als silberne Sopran-Stimme, mit
einem weiten Spektrum von ätherischem Pfeifen bis hin zu rasantem
Zwitschern und rau gestoßenen Akkorden.
Packend und mit Leichtigkeit
Im Zentrum stand also das Motiv aus Joseph Haydns „Kaiserquartett“,
dessen zweiter Satz zur deutschen Nationalhymne wurde. Wie gelang
es, daraus ein staatstragendes Musikereignis ohne schwerfälliges
Pathos zu machen? Die Antwort ist einfach: Komponist René Giessen
erzählte die deutsche Geschichte nicht ihrer historischen Reihenfolge
nach, sondern nahm seine persönliche Perspektive zum
Ausgangspunkt – den Blickwinkel eines kleinen Jungen, der im
Wirtschaftswunderland unter amerikanischen Boogiewoogie-
Einflüssen aufwuchs, was für ihn eine heitere Erfahrung war. Erst
später fing der 1944 in Tschechien geborene Sudetendeutsche an,
darüber nachzudenken, was vorher geschah. Doch bevor dunkle
Kapitel ihren Platz bekommen, jagen sich Cello und Mundharmonika
ein bisschen wie Tom und Jerry durch eine swingende Passage. Im
Walzertakt schwelgt das Orchester in Erinnerungen an Urlaube in
Österreich und Italien.
Wenn es dann an die Rückblende zum Zweiten Weltkrieg geht, wird
die Haydn-Melodie in Moll gewendet und daraus ein Trauermotiv mit
einer absteigenden Sekund entwickelt, dass sich in düster-
bedrückendem Marschrhythmus zu einem dunklen sinfonischen
Szenario voller Spannungen und Konflikte aufbaut. Am Ende der
apokalyptischen Passage, die uns mit voller Wucht trifft, aber niemals
in pathetische Vorhersehbarkeit abgleitet, finden wir als Zuhörende
uns wieder zurückgeworfen auf die einsame Mundharmonika und das
Cello, das versucht, sich zum Neuanfang zu sammeln.
Von Haydns Melodie ist zu diesem Zeitpunkt nur noch ein Bruchstück
übrig, ein leise fragendes „Vate-her-land?“, welches die
Mundharmonika dem Cello immer nagender entgegenhält, während
dieses entschlossen beginnt, Hanns Eislers DDR-Hymne zu intonieren
– „Auferstanden aus Ruinen“. Die Frage nach dem „Vaterland?“ wird
dann umgedeutet zur Fanfare mit der Botschaft „Wir sind das Volk!“ –
ein Leitmotiv, das zuerst leise, dann immer sicherer und gewaltiger
erklingt. Am Wendepunkt durften die historischen Worte, die für die
Wende stehen, dann auch von den Orchestermitgliedern wörtlich
ausgesprochen werden.
Nach der glücklichen Rückkehr der lang vermissten, vollständigen
Melodie von „Einigkeit und Recht und Freiheit“ endet das Stück mit
einem beschwingten Schluss: Eine triolische Geschäftigkeit beschreibt
die Lebenswege der vielen Menschen, die an dem Projekt Staat
beteiligt sind und verklingt in sanftem Diminuendo. Die Frage im Hier
und Jetzt lautet: Was möchte jeder einzelne von uns zu einer
gelingenden Zukunft beitragen?
Was diese Uraufführung zu einem emotionalen Ereignis machte,
waren ihre Zwischentöne, die Schweigepausen und die entwaffnende
Naivität und Ehrlichkeit, mit der hier ein generationsübergreifendes
„Wir“-Gefühl gelebt werden durfte. Dies lag auch am Blasorchester
des Langerringer Musikvereins, das MusikerInnen verschiedener
Generationen in sich vereint. Unter dem Dirigat von Stephan Knöpfle
zeigte das Orchester seine vollen symphonischen Qualitäten und
wuchs gar über sich hinaus. Dass der Dirigent außerhalb der
Musikwelt als Richter am Oberlandesgericht München tagtäglich im
Dienst einer der Grundsäulen unserer freiheitlich demokratischen
Grundordnung steht, fügte sich nur zu gut in den Tenor des Werks. Am
Ende gab es großen Applaus für René Giessen und Julien Chappot –
und ein Werk, das sich für Feierstunden als berührende und
zeitgeistige Option empfiehlt.
Text von Christiane Abendroth.